Was ist das New Normal bei Karrieremessen? Interview mit zwei Veranstalterinnen

New Normal bei Karrieremessen

Verbot von Großveranstaltungen, strenge Hygiene-Vorschriften und Kontaktbeschränkungen, diffuse Ängste, Unsicherheit in Bezug auf eigene Karriere und Sinnhaftigkeit von Jobwechsel, aber auch zunehmende Vertrautheit mit digitalen Tools und Konferenzsystemen. Das und vieles mehr hat in den letzten gut eineinhalb Jahren auch erhebliche Auswirkungen auf den Recruitingkanal Karrieremessen und Karriereevents. Und jetzt: dank Lockerungen sind Veranstaltungen wie Messen wieder (eingeschränkt) möglich. Menschen kehren an Arbeitsplätze und in die Öffentlichkeit zurück. Der Impffortschritt bringt mehr gefühlte Sicherheit. Also alles wieder auf Anfang, so wie es vor der Pandemie war?

Wir haben dazu mit zwei Veranstalterinnen von Karrieremessen/-events – Melanie Vogel und Sabine Hildebrand-Woeckel gesprochen.

Welche Alternativen haben Sie zu Präsenz-Messen/Veranstaltungen in Coronazeiten entwickelt und wie wurden diese von Besuchern und Ausstellungen angenommen?

Sabine Hildebrand-Woeckel: Wir haben uns bewusst gegen virtuelle Alternativen entschieden, weil die persönliche Begegnung für uns da A und O von Jobmessen ist.

Melanie Vogel: Wir haben unserem Messe-Kongress WOMEN&WORK vollständig digitalisiert und damit sehr gute Erfahrungen gemacht. Durch die Digitalisierung konnten Arbeitgeber ein vollständig eigenes Messe- und Kongressprogramm anbieten – das war auf analogen Messen bisher nie möglich. Die Arbeitgeber haben auch Kolleginnen und Kollegen aus ganz Deutschland, teilweise sogar weltweit, in die Veranstaltung eingebunden. Auch das ist analog so nicht – oder wenn nur unter großem finanziellen Aufwand – möglich. Die Präsentationsvielfalt hat sich für die Arbeitgeber daher deutlich erhöht. Unternehmen, die das verstanden und nutzten, haben sehr profitiert und guten Zulauf gehabt.

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Auch die Besucherinnen reagierten sehr begeistert. Durch das Wegfallen von Anreise und Übernachtung war es viel einfacher, teilzunehmen. In den Besucherinnenzahlen hat sich das gezeigt. Angemeldet hatten sich über 3.200 Frauen aus 29 Ländern für den Messe-Kongress. Wir konnten über 8.000 individuelle Kontakte tracken, das waren im Durchschnitt 120 Standbesucherinnen pro Unternehmen. Die Top 10-Arbeitgeber lagen deutlich darüber. Bei der Zufriedenheit der Messebesucherinnen haben wir überhaupt keinen Unterschied zwischen analoger und digitaler Messe feststellen können. Im Gegenteil. 96,8% der befragten Besucherinnen würden die digitale WOMEN&WORK weiterempfehlen und sehr viele haben uns den Wunsch gespiegelt, bitte nicht mehr in analoge Veranstaltungsformate zurückzugehen.

Was war für Sie die größte Herausforderung bei der Umsetzung eines digitalen Angebots?

Melanie Vogel: Die größte Herausforderung für uns war zu erkennen, was der schützenswerte und überlebenswichtige Kern der WOMEN&WORK ist und damit verbunden die Frage: Kann dieser Kern digital beibehalten werden? Der Kern der WOMEN&WORK ist der Spirit der Veranstaltung, die Leichtigkeit und Freude, die Gespräche auf Augenhöhe, der Mix aus Kongress und Messegespräch.

Als uns klar war, dass wir das auf keinen Fall im Zuge der Digitalisierung verlieren dürfen, bestand die nächste Herausforderung darin, eine Plattform zu finden, die diesen Spirit erhalten kann. Sehr viele Plattformanbieter schieden hier schon von vornherein aus, weil die einen nur Wert auf die Darstellung von 3D-Messeständen legen, die anderen zwar Kommunikation ermöglichen, allerdings nur nach einem starren Konzept, ähnlich wie Zoom. Weder das eine, noch das andere ist dienlich, um einen Messe-Kongress digital darzustellen.

Irgendwann kam uns der Zufall zu Hilfe und wir stießen auf die Plattform trember.com. trember ist eine interaktive und soziale Crowdlösung, mit der das menschliche Kommunikationsverhalten sehr leicht in den virtuellen Raum verlagert und fast lebensecht nachgebildet werden kann. Das war und ist für uns eine perfekte Lösung. Es war – sehr zum Erstaunen von Arbeitgebern und Besucherinnen – tatsächlich möglich ein fast ganz normales Messegeschehen digital abzubilden.

Was sind Ihrer Meinung/Beobachtung nach die wesentlichen Anforderungen von Besuchern an die Aussteller – live wie auch virtuell?

Sabine Hildebrand-Woeckel: Sie müssen aktiv auf die Besucher zugehen. Klingt einfach, ist aber sehr oft nicht gegeben. Und sie müssen direkt vor Ort echte Gespräche führen, d.h. über die zu besetzenden Positionen Auskünfte geben können und die Chance nutzen den Kandidaten kennenzulernen. Wer nur Visitenkarten verteilt und auf die Homepage verweist ist auf Karrieremessen fehl am Platz. [Für Besucher sind zudem als Zusatzangebote attraktiv:] Inhaltliche Vorträge und individuelle Beratungen von neutralen Personen, z.B. Karriere- oder Imageberatern.

Melanie Vogel: Wir sind der Meinung, dass es aus Sicht des Arbeitgeber-Marketings jetzt und in Zukunft auf „Recrutainment“ ankommt – auf das Kreieren emotionaler (digitaler) Erlebniswelten. Unsere Besucherinnen haben uns das auch als Feedback gegeben. Wir haben sie gefragt, was sie von Arbeitgebern erwarten, die sich digital auf einem Event präsentieren.

Da sehr viele Menschen in den letzten eineinhalb Jahren digitale Veranstaltungen erlebt haben, gehen wir davon aus, dass die Anforderungen auch für die analoge Welt gelten. Hier stoßen wir als Veranstalter jedoch auf ein „materielles Dilemma“: Die analogen Räume sind begrenzt – zeitlich und kapazitätsmäßig. Die Barrierefreiheit und die Themenvielfalt, die wir beispielsweise bei der diesjährigen WOMEN&WORK digital anbieten konnten, sind analog derzeit und in nächster Zukunft aufgrund der strengen Hygienevorschriften nicht umzusetzen.

Wie glauben Sie wird in Nach-Corona-Zeiten das typische Karriere-Event bzw. die typische Karriere-Messe aussehen und warum?

Sabine Hildebrand-Woeckel: Ich denke, es wird beides weiterhin geben: Virtuelle und analoge Messen.

Melanie Vogel: Wir gehen davon aus, dass es Veranstaltungen wie „vor Corona“ nicht mehr geben wird. Das verhindern allein schon die strengen Hygienevorschriften, die ein natürliches Messeverhalten schlicht und ergreifend nicht fördern.

Wir haben die Besucherinnen der WOMEN&WORK befragt, ob sie wieder zurück wollen zu analogen Veranstaltungen. Nur 7,7% wünschen sich ausdrücklich wieder analoge Veranstaltungen. Alle anderen gaben an, über digitale Formate in die Kontaktaufnahme gehen zu wollen.

Dazu muss man berücksichtigen, dass insbesondere im Recruiting derzeit eine Generation von Studierenden an den Hochschulen ist, die jetzt das 4. Semester in Folge digital studiert, d.h. sie haben derzeit einen Großteil ihres Studiums digital durchgeführt. Diese Studierenden haben mit großer Wahrscheinlichkeit noch nie eine analoge Karrieremesse besucht. Das bedeutet: Sie fehlt ihnen auch nicht. Diese Generation hat dafür aber das digitale Leben rauf und runter erfahren und erwartet, natürlich auch weiterhin digital bespielt zu werden. Darauf müssen sich Veranstalter einstellen – aber auch Arbeitgeber. Das digitale Leben ist nicht mehr wegzudenken.

Derzeit läuft eine weitere Umfrage von uns, in der wir das generelle Event-Verhalten der Menschen abfragen. Die Umfrage läuft noch bis Ende August, doch bereits jetzt sind schon folgende Veränderungen klar auszumachen:

  • Über die Hälfte der derzeit Befragten fühlt sich auf Großveranstaltungen (dazu gehören Messen) nicht mehr sicher.
  • Ungefähr zwei Drittel meiden seit 2020 Großveranstaltungen und geben an, das auch weiterhin tun zu wollen. Insbesondere im Business-Bereich sieht fast die Hälfte der Befragten keine Notwendigkeit mehr, auf analoge Veranstaltungen zu gehen, da ihr gesamtes Arbeitsleben seit eineinhalb Jahren digitalisiert ist. Im privaten Bereich sind die Befragten eher geneigt, Ausnahmen zu machen – dann aber nur unter strengen Abstandsregeln.
  • Ebenfalls zwei Drittel erwarten, dass zukünftig zu analogen Veranstaltungen auch eine digitale Komponente angeboten wird. Das bedeutet, dass sich alle Veranstalter so oder so mit dem Thema der Digitalisierung von Veranstaltungen auseinandersetzen müssen.

Nach über 20 Jahren Event- und Messebusiness und über 120 veranstalteten Messen und Kongressen kommen wir daher zu der sachlichen Erkenntnis, dass die Pandemie eine – im Schumpeter’schen Sinne – schöpferische Zerstörung in der gesamten Branche initiiert hat, die innovatives Handeln von allen Beteiligten erfordert. „Userzentrierte“ Verhaltensänderungen, die durch einen äußeren Wandel herbeigerufen und über Wochen und Monate geübt und verinnerlicht werden, kommen, um zu bleiben. Das zeigt zumindest die Innovationsgeschichte.

Fazit

Allein an diesen beiden Beispielen ist erkennbar: das Handeln und die Meinungen zu digitalen Karrieremesse/-event-Angeboten ist unterschiedlich. Und so werden wir in Zukunft sicher auch verschiedene Veranstaltungskonzepte erleben. Wahrscheinlich ähnlich wie im Bereich Weiterbildung.

Bei einer aktuellen Umfrage von Bitkom dazu (Studie: Status Quo und Zukunft der digitalen Weiterbildung in Unternehmen, 2021) gaben die Befragten folgendes an: 26% bevorzugen Präsenzformate, 19% möchten gerne ausschließlich digital lernen. Und 55% hätte in Zukunft gerne “hybride” Veranstaltungsformen, also einen Mix aus Vor-Ort und Online-Lernen.

Was bei der Gestaltung von Angeboten insbesondere von Karrieremessen und -events sicher eine Rolle spielen wird, ist die Zielgruppe. Junge, digital-affine Menschen lassen sich sicher mehr von Online-Messen und Events begeistern. Erfahrenere Interessenten, die die klassischen Events mit persönlichen Austausch vor Ort schon kennen- und schätzen gelernt haben, dürften es auch eher wieder zu hybriden oder Live-Veranstaltungen ziehen.

Danke-schön

Wir danken unseren beiden Interviewpartnerinnen für ihre Antworten und wünschen ihnen wie allen anderen Veranstaltern weiterhin viel Erfolg – egal, welchen Weg sie einschlagen.

Melanie Vogel – Veranstalterin des Messe- und Karriereevents Women&Work.

Seit 2011 ist die jetzt 2x jährlich stattfindende WOMEN&WORK wichtiger Anlaufpunkt für Frauen, die in den Job (wieder)einsteigen, umsteigen oder sich weiterentwickeln möchten. Sie lernen hier passende Arbeitgeber kennen und können sich zu ganz unterschiedlichen Themen informieren.

Sabine Hildebrand-Woeckel – Veranstalterin der Jobmessen40Plus.

Die Messen zielen auf erfahrene Fach- und Führungskräfte ab, deren Ziel die berufliche Umorientierung ist. Bundesweit organisiert und eher etwas kleiner und exklusiver gehalten haben konzentrieren sich die jeweiligen Termine auf Arbeitgeber und Interessenten aus bestimmten Branchen bzw. Berufsfeldern. Beispiele dafür sind IT(-Consulting)/Engineering & Erneuerbare Energien, Finance, Versicherungen & Handel oder Healthcare/Gesundheitswesen, Pharma, Medizin und Biotechnologie.

Karl-Heinrich Bruckschen
... unterstützt mit upo - Bausteine für Rekrutierungserfolg Arbeitgeber bei der Professionalisierung ihres Recruitings durch Recruiting Checks und Beratung, Konzeption von Recruiting Instrumenten, operative Recruiting Services (RPO) oder den Ausbau von Recruiting Kompetenz durch Webinare, Seminare und Workshops. Sein besonderes Augenmerk liegt auf der Verbindung von IT und Recruiting. Daher ist er auch verantwortlich für das Fachportal Rekrutierungserfolg.de.