Ansatzpunkte zur Professionalisierung des Recruitings – darum ging es neulich in einem Kundengespräch. Die Diskussion fokussierte sich schnell auf Vorstellungsgespräche mit Bewerbern und deren anschließende Bewertung. Ich schilderte eine Beobachtung aus einer Vielzahl begleiteter Interviews: nach den Bewerbungsgesprächen wurde oft pauschal festgestellt “Den nehmen wir, der gefällt mir gut” oder “Ein klares Nein, die kann ich mir nicht als Mitarbeiterin vorstellen”. Und das, ohne überhaupt in eine Bewertung des Gesprächs einzusteigen. Mit dieser Bemerkung hatte ich wohl einen wunden Punkt getroffen. Die “Chemie” zwischen Personalentscheider und Bewerber müsse stimmen, sonst klappe es mit der Zusammenarbeit nicht, egal wie gut der Bewerber die Aufgaben erledigen könne. Daher brauche man nicht weiter zu bewerten, wurde mir entgegnet. Aber ist das professionelles Recruiting und ist eine so getroffene Personalentscheidung wirklich tragfähig?
Chemie vs. objektive Personaldiagnostik
Diese Frage wurde in dieser wie in vielen anderen Diskussionsrunden auch schon leidenschaftlich diskutiert. Das Ergebnis am Ende der Diskussion: professionelles Recruiting sollte auf klaren fachlichen wie persönlichen Anforderungen basieren. Wenn es Bewerber gibt, die im Anforderungsvergleich vergleichbar abschneiden, dann kann der Bauch bzw. der Nasenfaktor die entscheidende Rolle spielen. Wie kam diese Aussage zustande? Hier die drei zentralen Argumente:
Risiko von Fehlentscheidungen durch Beurteilungsfehler
Bei Beurteilungen von anderen Personen unterliegen Menschen oft Fehleinschätzungen, weil sie in Schubladen denken. Es gibt typische Beurteilungsfehler, die unterbewusst ablaufen, aber auch solche, die auf vermeintlicher Menschenkenntnis beruhen. Hier ein paar Beispiele, wie die “Chemie” zwischen Personalentscheider und Bewerber beeinflusst werden kann und die Entscheidung zu einer höchst subjektiven Angelegenheit werden lässt:
- Begegnen wir Menschen, die ähnlich ticken wie man selbst, also ähnliche Vorlieben, Wertvorstellungen etc. haben, sind diese Menschen uns meist sympathischer als andere Personen. Wir laufen dann Gefahr, die Fähigkeiten dieser Menschen höher einzuschätzen oder über nicht vorhandene Fähigkeiten hinwegzusehen. (Sympathie-Effekt)
- Wenn wir eine Person vor uns haben, die schon einmal anspruchsvolle/höherrangige Aufgaben wahrgenommen hat, trauen wir ihr unterbewusst gerne mehr zu als anderen Bewerbern (Hierarchie-Effekt)
- Gestandenen Personen unterstellen wir per se mehr Erfahrung und damit eine höhere Kompetenz als noch jüngeren Personen (Senioritätseffekt); diesen unterstellen wir gerne aber mehr Flexibilität und Aktualität im Wissen (Benjamin-Effekt).
- Empfinden wir unser Gegenüber als attraktiv, trauen wir ihm oft unbewusst deutlich mehr zu (Nimbus-Effekt).
- Neben diesen bekannten Effekten gibt es eine Vielzahl weiterer hobby-psychologischer Fehleinschätzungen, die beim “Schubladen-Denken”eine Rolle spielen: Sind Sportler wirklich sozial kompetenter, hat der Älteste von mehreren Geschwistern wirklich mehr Durchsetzungsvermögen, sind Menschen, die freiberuflich tätig sind, wirklich nicht teamfähig und sind Personen, die ein rotes Sakko tragen, tatsächlich aggressiver?
Auswahlentscheidungen, die auf dieser Basis getroffen werden, können richtig sein. Aber das wäre reiner Zufall. In aller Regel machen sie auf einem Auge blind und führen zu Fehlentscheidungen.
Nachhaltigkeit von Auswahlentscheidungen wichtiger als subjektiver Fit
Wählt man einen neuen Kollegen vor allem auch danach aus, ob die Chemie zum Vorgesetzten und/oder Team stimmt, übersieht man eines: die Konstellation ist nicht für die Ewigkeit. Ob Vorgesetzten- oder Abteilungswechsel, Veränderungen in der Teamstruktur etc. – die Passung muss dann auch noch gegeben sein, wenn sich das personelle Gefüge verändert. Daher ist es sinnvoll, bei der Personalauswahl weniger auf den subjektiven Fit als auf eine generelle Passung der Qualifikationen, Fähigkeiten und des Cultural Fits zwischen Bewerber und Unternehmen zu achten. Sonst ist das Risiko einer schnellen Personalfluktuation groß.
Diversity statt Homogenität tut Team und Unternehmen gut
Wenn nach dem Bauch und nach der Chemie entscheiden wird, werden meist die immer gleichen Typen eingestellt (Schmidt sucht Schmidtchen-Phänomen). Experten argumentieren, dass es für Teams gerade gut ist und sie erfolgreicher arbeiten, wenn sie nicht zu homogen sind. D.h. eine Personalauswahlentscheidung nach dem Geschmack der Führungskraft bremst die volle Entfaltung des Teams aus. Daher sollte aus Sicht der Diskutanten sogar bewusst bei der Personalauswahl darauf geachtet werden, Mitarbeiter auszuwählen, die andere Stärken und auch mal eine andere Denke als die bereits vorhandenen Mitarbeiter mitbringen.
Grundvoraussetzung professioneller Personalauswahl: Auswahlkriterien und Kompetenzmodell
Die eben beschriebene Diskussion führte uns unweigerlich zu der Frage: wie kann man ein Zuviel an “Chemie” reduzieren und die Auswahl objektivieren? Auch wenn nicht besonders beliebt, weil sie Arbeit machen und binden: Das Mittel der Wahl sind Anforderungsprofile und hinterlegte Kompetenzmodelle. Dabei reicht es nicht, eine Wunsch-Liste allgemeiner Kompetenzen zu benennen, die unspezifisch bleiben und auf nahezu jeden Arbeitsplatz passen könnten. Vor einer Stellenbesetzung sollten Personalentscheider und Personaler/Recruiter folgenden Fragen nachgehen:
Leitfragen zur Konkretisierung von Anforderungen
- Was sind heute und künftig die Ziele und die wesentlichen Aufgaben der Stelle? Was sind besondere Herausforderungen oder Schwierigkeiten?
- Was muss der künftige Stelleninhaber konkret tun, um die an die Stelle geknüpften Ziele und Erwartungen zu erfüllen? Wie sollte ein erfolgreicher Stelleninhaber handeln, wenn er die Herausforderungen/Schwierigkeiten meistern will? Was macht ein eher schwacher Stelleninhaber in diesen Situationen?
- Welches Fachwissen benötigt ein Stelleninhaber zur Bewältigung der Aufgaben und Herausforderungen? Wie kann man das messen?
- Welche überfachlichen Fähigkeiten sollte ein Stelleninhaber mitbringen? Wie können diese Fähigkeiten näher beschrieben und messbar gemacht werden?
- Über welche Einstellungen, Interessen, Persönlichkeitsmerkmale sollte die Person verfügen, damit sie zum Unternehmen, dessen Werten und Kultur passt? Welche Persönlichkeitsmerkmale lassen erwarten, dass ein Kandidat an dieser und anderen Stellen erfolgreich ist? Wie lassen sich diese konkreter formulieren und messen?
Mehrwerte – alles bekannt? Ja, aber noch immer nicht umgesetzt!
Klar formulierte Anforderungen und Kompetenzerwartungen sind der rote Faden durch den gesamten Recruiting-Prozess: von der spezifischen Stellenausschreibung, über Unterlagenanalyse, der Formulierung von Interviewfragen, Testitems und AC-Übungen bis hin zur (objektiv) vergleichenden Bewertung von Kandidaten.
Kommen wir wieder auf unser Eingangsbeispiel zurück. Mit klaren Anforderungen und einem darauf basierendes Bewertungsraster wäre eine differenziertere und objektivere Bewertung möglich. Gut gemacht und mit geschulten Recruitern und Personalentscheidern im Rennen dauert das übrigens gar nicht soviel länger, wäre aber deutlich solider.
Alles bekannt? Mag sein, aber die Praxis zeigt mir immer wieder, dass in vielen Unternehmen nach wie vor alles andere als professionell gehandelt wird. Deshalb sensibilisiere ich als überzeugte “Recruiting-Qualitäterin” nicht nur in Kundengesprächen und Praxisdialogen gerne dafür, erst Verstand und dann Chemie zum Zuge kommen zu lassen. Das trägt nicht nur zu besseren Ergebnissen im Recruiting bei, sondern wirkt sich auch auf die Candidate Experience aus. Denn die fehlenden Orientierung an klaren Kriterien zeigt sich nicht nur hinter verschlossenen Türen bei der Bewertung von Gesprächen, sondern bereits schon im Interview an der Formulierung der Fragen und erst recht bei einem (potenziellen) Bewerberfeedback.
Wie sehen und handhaben Sie die “Chemie” in der Personalauswahl?
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* Auch wenn wir zu Gunsten der Lesbarkeit auf die gleichzeitige Nutzung aller Genderformen verzichten, meinen wir immer alle Geschlechter.