Backstage | Gerade im Tech-Recruiting, aber auch in anderen Bereichen, wird immer mal wieder die Forderung laut, das Recruiting doch ganz in die Fachbereiche zu verlegen. Die Gründe: Recruiting würde es nicht schaffen, die richtigen Kandidat*innen an Land zu ziehen. Besetzungen würden dadurch verzögert. Und v.a. der Fachbereich wissen schließlich einfach am besten, wen sie brauchen und wer passt.
Unternehmen, die das Recruiting tatsächlich an die Führungskräfte der Fachbereiche abgegeben haben, und das Recruiting-Team entsprechend verschlanken und nur noch mit einer Beratungsfunktion versehen, erleben jedoch nicht zwingend das erhoffte Mehr an Rekrutierungserfolg. So, wie ein Unternehmen, das vor kurzem an uns herantrat.
Auftretende Problembereiche bei Verlagerung
In diesem Praxisfall zeigte eine längerfristige, begleitende Beobachtung nach Verlagerung des Recruitings in die Fachbereiche einige Problembereiche. Eine Analyse der Beratungsanfragen von Führungskräften beim HR-Team unterstrich diese Wahrnehmung:
- Stellenanzeigen, die von den Fachbereichen formuliert werden, erzeugen nicht die gewünschte Resonanz. Sie sind zu wenig konkret und zu sehr mit Blick aus der internen Brille formuliert. Und sie sind zu wenig zielgruppenorientiert in Text, Gestaltung und Platzierung in Recruitingkanälen.
- Bewerbungsanalyse haben einen starkem Fokus auf einzelne Kenntnisse, bisherige Arbeitgeber und leider auch diskriminierende Personenmerkmale. Zusätzlich fällt der fehlende Blick für überzogene Selbstdarstellung, Lücken oder geschönte Angaben und Aussagen in Bewerbungsunterlagen auf.
- Interviews gleichen oft eher Plauderstunden als einem gegenseitigen Check wirklich relevanter Anforderungen an neue Mitarbeitende bzw. neue Arbeitgeber. Bewertungen von Kandidat*innen im Netz zeigen, dass Interviewdauern und “Härtegrade” sehr unterschiedlich sind.
- Auswahl- und Entscheidungsprozesse dauern oft deutlich zu lang, die (Zwischen-) Kommunikation zu Bewerbenden ist zu gering oder fällt ganz aus.
- Zur abschließenden Bewertung und Entscheidung fehlen häufig wichtige Informationen und man stellt fest, dass man bestimmte Themen gar nicht nachgefragt hat oder die Aussagen so oberflächlich waren, dass eine abschließende Bewertung nicht möglich ist. Entscheidungen werden daher nicht selten entweder geherzt nach Bauchgefühl gefällt, hinausgezögert oder im Zweifel gegen Kandidat*innen getroffen.
- Das HR/Recruiting-Team soll im Einzelfall im Recruiting beraten und sich sonst um andere Themen kümmern. Wenn aber Führungskräfte im konkreten Tun feststellen, dass Recruiting gar nicht so einfach und nebenbei zu erledigen ist, dann ist der Beratungsaufwand größer als geplant. Dann gilt es individuell in Marketing-Themen, bei eignungsdiagnostische Defiziten oder rechtliche Fragen beizuspringen oder für Candidate Experience zu sensibilisieren.
Diese Entwicklungen sind kein Einzelfall. Wir können das auch bei anderen Unternehmen beobachten, bei denen HR/Recruiting entweder die Verantwortung teilweise oder komplett abgibt oder das Recruiting nicht stark genug aufgestellt ist, so dass Führungskräfte de facto das Recruiting übernehmen.
Wie kann das besser laufen?
Um solche Fehlentwicklungen zu vermeiden und doch dem Ziel näher zu kommen, im Recruiting die Fachbereiche deutlich mehr einzubeziehen oder ein Großteil des Recruitings machen zu lassen, gibt es verschiedene Learnings. Hier drei etwas ausführlicher beschrieben:
1 | Keine Verlagerung, sondern ein besseres Zusammenspiel
Statt das Recruiting in die Fachbereiche zu delegieren – was je meist dem Ziel dient, Unzufriedenheiten bei Stellenbesetzungen aufzulösen – kann eine Optimierung des Zusammenspiels der bessere Ansatzpunkt sein. Versteht man Recruiting als Teamaufgabe, dann ist die Optimierung der Zusammenarbeit von Fachbereich und HR/Recruiting eine Teamentwicklungsaufgabe.
Gemeinsame Task Forces idealerweise moderiert durch Personen, die z.B. sonst Teamentwicklung unterstützen, oder durch externe Experten sind ein guter Ansatzpunkt, um ins Gespräch zu kommen, zu bleiben und das Miteinander stetig zufriedenstellender zu gestalten.
2 | Wenn Verlagerung, dann nicht auf die Führungskraft
Angesichts des mit dem Recruiting verbundenen Aufwands für Bewerbungsmanagement, Bewertung sowie Beziehungspflege geraten Führungskräfte schnell an ihre zeitlichen Grenzen. Oft delegieren sie die Aufgaben dann irgendwie an Teammitglieder. Diese sind noch weniger firm in Recruitingthemen als die Führungskraft, Datenschutz mal ganz außen vor gelassen. Wenn Recruitingaufgaben in Fachbereiche verlagert werden, sollte von Anfang an eine konkrete Person aus dem Team für das Recruiting-Projektmanagement verantwortlich sein. Einige Unternehmen lösen das so, dass sie Recruiter*innen, die ehemals zentral im Einsatz waren, in Fachbereiche versetzen, die ein besonders hohes Recruitingvolumen oder schwer zu besetzende Stellen haben.
3 | Keine Verlagerung ohne Qualifizierung
Recruiting ist kein Hexenwerk, aber ein anspruchsvoller Job, den man nicht einfach so kann. Dafür gibt es viel zu viele Dinge zu beachten und falsch zu machen – mit finanziellen Folgen, Auswirkungen auf das Arbeitgeberimage oder sogar rechtlichen Konsequenzen. An wen auch immer eine Verlagerung von Recruiting-Aufgaben erfolgt, diejenigen Personen sollten entsprechend qualifiziert werden. Das kann durch einzelne Seminare, kollegiales Coaching oder die Integration eines entsprechenden Bausteins in Personal- bzw. Managemententwicklungsprogramme erfolgen. Und auch die Mitarbeiternden in HR/Recruiting gilt es nicht zu vergessen. Auch sie gilt es in ihrer neuen Rolle als Berater*innen fit zu machen und für die damit verbundenen Herausforderungen zu sensibilisieren.
Und wie sieht nun die Lösung für das oben genannte Unternehmen aus? Das Unternehmen hält trotzt der genannten Problembereiche an der Verlagerung des Recruitings fest. Aber statt den Dingen weiter ihren Lauf zu lassen, startet in Kürze eine (Online-)Seminarreihe für Führungskräfte. Das Ziel: Die Führungskräfte der Fachbereiche mit mehr Recruiting Know-how ausstatten und für die Feinheiten des Jobs sensibilisieren. Dann können sie mittelfristig ein stärkeres Recruiting machen und Stellen schneller adäquat besetzen. Und HR muss nur noch bei besonderen Einzelfragen zum Recruiting beratend unterstützen. So wie es ursprünglich angedacht war.
* Auch wenn wir zu Gunsten der Lesbarkeit auf die gleichzeitige Nutzung aller Genderformen verzichten, meinen wir immer alle Geschlechter.