Backstage | IT-Fachkräfte werden weiter händeringend gesucht. Mit dem Digitalisierungsschub durch die Pandemie hat sich die Lage in so manchem IT-Fachbereich noch verschärft. Der Wettbewerb um Fachleute im IT-Projektmanagement, in der Softwareentwicklung, im IT-Testing/Qualitätsmanagement, im Bereich UX/UI-Design oder KI etc. ist branchenübergreifend in vollem Gange.
Der Unmut in den IT-Fachbereichen steigt entsprechend, weil es oft nicht gelingt, den Personalbedarf auch nur annähernd zu decken. Daher möchten IT-Bereiche in manch einem Unternehmen am liebsten selbst das Recruiting übernehmen und HR/Recruiting außen vor lassen. (Und das gilt auch nicht nur für IT-Fachbereiche, sondern oft auch für andere Spezialbereiche.) Aber ist das die Lösung?
Unzufriedenheiten und Vorwürfe auf beiden Seiten
IT-Fachbereiche sprechen von fehlendem IT-Know-how der Recruiter*innen, denen es deshalb einfach nicht gelingt die richtigen Fachleute zu adressieren oder aktiv anzusprechen oder auszuwählen. Aber auch das Festhalten an starren Prozessen statt agilen Handelns wird immer wieder kritisiert. Und letztlich auch, dass Unternehmen im Arbeitgebermarketing schlecht aufgestellt sind und ihnen die Verbindung in entsprechende Netzwerke fehlt.
Recruiting auf der anderen Seite wirft den IT-Fachbereichen vor, bei der Betrachtung von Bewerbungen und in Kennenlernsituationen eignungsdiagnostisch wenig professionell zu handeln, sich stark von subjektiven Aspekten oder einzelnen Kenntnisse der Kandidat*innen lenken zu lassen und ihnen ein zu wenig realistisches Bild von den Aufgaben und Rahmenbedingungen geben. Mit der Folge, dass die Entscheidungsfindung schwer fällt, sich Prozesse verzögern und Fehlentscheidungen zu Frühfluktuationen führen.
Recruiting-Experten positionieren sich in der Zeitschrift Personalwirtschaft
Die Fronten sind teilweise ganz schön verhärtet, Lösungsansätze gesucht. In der August-Ausgabe der Personalwirtschaft wird dieses Thema deshalb von Winfried Gertz aufgegriffen. In seinem Artikel “Brückenbauer verzweifelt gesucht” sind Statements von verschiedenen Recruiting-Experten zu diesem Thema eingeflossen. Neben Ruth Böck von upo haben sich auch Wolfgang Brickwedde, Sebastian Dörner, Marcel Rütten, Michael Witt und Henrik Zaborowski eingebracht.
Zwei Aspekte werden in den Meinungen besonders deutlich (und hier aufgegriffen und ergänzt):
1. HR/Recruiting muss ein tieferes Verständnis für den IT-Fachbereich entwickeln
Möglichkeiten dazu gäbe es verschiedene
- Hospitationen: HR/Recruiting könnte dadurch die IT-Landschaft mit ihren Jobs, ihren Arbeitsweisen und Arbeitsumgebungen intensiver kennenlernen. Das setzt natürlich voraus, dass der Wert dieser Hospitationen erkannt würde und Recruiting die Zeit dafür bekäme bzw. sich nähme.
- Briefing: Das Briefing muss einen höheren Stellenwert bei Stellenbesetzungen erhalten und viel mehr Einblicke in den Job und das drumherum umfassen. Es reicht nicht, alte Stellenanzeigen kurz zu besprechen und einzelne Anforderungen auszutauschen. Im Briefing müssen Aufgaben, Anforderungen und Rahmenbedingungen so konkret besprochen werden, dass HR/Recruiting Stellenanzeigen auf die Candidate Persona zugeschnitten konkret formulieren sowie im Kandidaten-Search gezielter Kandidat*innen identifizieren, ansprechen und ihnen kompetent Auskunft geben kann. Das braucht oft ein Plus an Standing von HR/Recruiting, solange nachzufragen und nachzuhaken, bis klar ist, was die zu besetzende Stelle ausmacht und welche Candidate Persona gesucht wird.
- Spezialisierung: HR/Recruiting könnte sich mehr spezialisieren. Statt dass Recruiter*innen – wie in der Praxis oft zu beobachten – einen bunten Mix an Stellen betreuen, könnten sie sich mehr auf Job Families (z.B. IT) fokussieren. Eine Steigerung dazu wäre es, wenn der IT-Fachbereich eigene Stellen für das Recruiting implementiert. Das Risiko dabei: das Recruiting und ggf. auch das daran angeknüpfte Arbeitgebermarketing verselbständigen sich.
2. Der IT-Fachbereich muss den Mehrwert von HR/Recruiting in Bezug auf Kandidatenansprache und Eignungsdiagnostik erleben
Recruiting ist mehr als schnell mal eben eine Anzeige zu schalten oder jemanden im Netzwerk anzusprechen und ein Gespräch miteinander zu führen. IT-Fachbereiche, die das Recruiting an sich ziehen wollen, unterschätzen die Aufgaben im Recruiting gerne. Insbesondere betrifft das die Kompetenz in der Auswahl und Nutzung verschiedener Recruitingkanäle, die Beziehungspflege zu Kandidat*innen und die Fähigkeit zur Eignungsdiagnostik .
Statt einen Besetzungsauftrag zu übernehmen, nach einiger Zeit Kandidat*innen-Profile zu liefern und im Hintergrund das Bewerbermanagement zu erledigen, muss HR/Recruiting deutlich mehr als agiler Business Partner für den Fachbereich erlebbar sein und dazu wenn notwendig den einen oder anderen Change machen.
Hier ein Weg, wie Recruiting mehr kompetenzbasiert mit verteilten Rollen erfolgen kann:
- Bewerberansprache:
- Der IT-Fachbereich liefert die Inhalte zur Formulierung der Stellenbeschreibung/Anzeige einbringen. Aber HR/Recruiting spielt dann seine Texterkompetenz bei der Formulierung einer Candidate Persona, der Aufgaben und relevanten Arbeitgeberleistungen, den Jobtitel etc. aus. Und bringt seine Fähigkeiten zur SEO-Optimierung ein.
- Der IT-Fachbereich aktiviert zur Akquise Kontakte in seinem Netzwerk. Und HR/Recruiting bringt seine Kompetenz in der Auswahl und Nutzung geeigneter Jobportale und Social Media-Kanäle ein. Und pflegt diese, damit angesprochene Kandidaten auch Informationen finden und Eindrücke gewinnen können. Unabhängig davon , wo und von wem Kandidat*innen angesprochen werden, zentraler Landeplatz von Bewerbungen ist das Bewerbungsmanagementsystem bzw. HR/Recruiting.
- Bewerberauswahl:
- Der IT-Fachbereich bringt seine Expertise bei der Prüfung der fachlichen Passung ein. HR/Recruiting zeigt seine eignungsdiagnostische Kompetenz bei der Einschätzung der persönlichen, sozialen und kulturellen Passung ins Unternehmen.
- Der IT-Fachbereich entscheidet, wie er die Kandidaten*innen kennenlernen möchte (Gespräche, Arbeitsproben, Tests etc.). HR/Recruiting berät über geeignete Auswahlinstrumente und stellt dann entsprechende Instrumente bereit, brieft die Fachbereiche in deren Nutzung und begleitet die Verfahren.
- Der IT-Fachbereich ist der letztendliche Entscheider. HR/Recruiting berät dabei und weist auf mögliche Bewertungsfallen hin. Und achtet darauf, dass Rahmenbedingungen (z.B. zur Vergütung, Homeoffice etc.) eingehalten und richtig kommuniziert werden sowie Candidate Experience wie auch rechtliche Aspekte im Blick gehalten werden.
Wie man dahin kommt?
All das setzt Kommunikation miteinander statt übereinander voraus. Gemeinsame Task Forces idealerweise moderiert durch Personen, die z.B. sonst Teamentwicklung unterstützen, oder durch externe Experten sind ein guter Ansatzpunkt, um ins Gespräch zu kommen und zu bleiben.
Aber noch ein anderer Punkt ist wichtig. In HR/Recruiting braucht es Menschen, die Kompetenz, Erfahrung und Standing mitbringen, die Angriffe aushalten und ihnen lösungsorientiert etwas entgegenzusetzen haben. Die agil und angepasst an die jeweilige Situation in dem zu betreuenden Fachbereich handeln. Die über den gesamten Prozess laufend die Kommunikation über Rückkopplungsschleifen und Anpassungsvorschläge mit dem Fachbereich suchen und sich nicht als Abwickler und Administrator eines Standardprozesses verstehen. Vielen Recruiting-Bereichen fehlen solche Recruiter*innen. Das ist auch eine Folge davon, dass Recruiting oft als Einstiegs-/ Durchlaufposition im HR-Bereich verstanden wird.
* Auch wenn wir zu Gunsten der Lesbarkeit auf die gleichzeitige Nutzung aller Genderformen verzichten, meinen wir immer alle Geschlechter.