Ein Teamleiter im technischen Bereich eines Energieversorgers berichtet von seinen Erlebnissen bei der Besetzung einer Stelle in seinem Team – nach Änderungen im Personalauswahlprozess. Dieses Mal soll alles anders laufen als bisher. Die Personaler waren auf Schulung und haben neue Ideen zu Verbesserungen der Personalauswahl, insbesondere der Vorstellungsgespräche mitgebracht. Weil bei den letzten Stellenbesetzungen der eine oder andere Fehlgriff dabei war und es jetzt um eine sehr wichtige Stelle in seinem Team ging, zeigte sich der Teamleiter offen für Veränderungen. Und machte damit wenig gute Erfahrungen. Lessons learned!
Warum nicht mal den Personalauswahlprozess ändern
Erste Neuerung: Fallstudie
Eine Änderung sollte die Integration eines kleinen Assessment Elements zur Prüfung der Fachlichkeit im Vorstellungsgespräch sein. Keine schlechte Idee so eine “Arbeitsprobe” fand auch der Teamleiter, denn letztlich muss ja nicht nur die Chemie stimmen. Daraufhin wurde er gebeten, eine entsprechende Aufgabenstellung zu formulieren. Damit fühlte er sich schnell etwas alleine gelassen. Aufkommende Fragen erzeugten bei der Personalabteilung Schulterzucken:
- Wie umfangreich und detailliert soll die Aufgabenstellung sein?
- Wie viel Zeit steht dafür zur Verfügung? Wieviel Zeit hat der Bewerber auch zur Vorbereitung?
- Sollen ein oder mehrere konkrete Fragenstellungen integriert werden?
- Sollen auch ein paar Komplikationen eingebaut werden, die den Bewerber besonders herausfordern? usw.
Er solle mal machen und am besten gleich auch eine Musterlösung ausarbeiten. Schon stellten sich ihm die nächsten Fragen:
- Für wen und wie differenziert soll die Musterlösung sein – für Experten wie ihn oder so verständlich aufbereitet, dass auch Fachfremde wie z.B. aus dem Personalbereich sich damit zurecht finden?
- Soll diese umfangreich ausformuliert sein oder reichen ein paar Stichworte oder Skizzen? etc.
Nachdem er Aufgabe plus Musterlösung dem Personalbereich abgeliefert hatte, blieb eine Rückmeldung bis kurz vor den ersten Terminen aus. Dann fragte er nach. Denn man weiß ja nie, vielleicht war die Aufgabe doch zu lang, zu detailliert, zu schwierig. Nein – wird so genommen; man guckt einfach mal, wie´s damit läuft.
Die Aufgabe brachte tatsächlich gute Einblicke in den Kenntnisstand, aber sie dauerte inklusive Diskussion und Nachfragen auch recht lange. Dadurch blieb im Gespräch nicht mehr genug Zeit, den Bewerbern genauere Informationen über die künftigen Aufgaben zu geben oder detaillierter auf ihre Fragen einzugehen. Sie wurden auf einen ggf. stattfindenden zweiten Termin vertröstet.
Zweite Neuerung: Bewertungsbogen
Nach dem Gespräch zückte die Personalabteilung ihre zweite Neuerung: einen Bewertungsbogen. Der Teamleiter sollte damit eine Vielzahl an Kriterien zur Fach-, Methoden-, Sozial- wie persönlichen Kompetenz bewerten. Er fragte sich: was genau ist denn z.B. mit kognitiven Fähigkeiten gemeint, wie weit oder eng wird Team- oder Konfliktfähigkeit gefasst und wie soll er das nach Bearbeitung einer sehr technisch-gehaltenen Aufgabe beantworten? Rückfragen brachten keinen wirklichen Erkenntnisgewinn.
Dann aber alles beim Alten
Einige Zeit später ging der Personalauswahlprozess weiter. Zur zweiten Vorstellungsrunde wurde zunächst der TOP-Kandidaten der ersten Runde eingeladen. Der Teamleiter erfuhr, dass nicht er, sondern sein Vorgesetzter seitens der Fachabteilung am Gespräch teilnimmt. Sein Hinweis, dass den Bewerbern doch angekündigt wurde, im Zweitgespräch mehr über künftige Aufgaben zu erfahren und er als Teamleiter die Aufgaben am besten kennt, verhallte. Der Bewerber könne ja in der Anzeige sehen, welche Aufgaben künftig auf ihn zukommen und im Zweitgespräch ginge es eh wie gewohnt insbesondere um Vertragliches – so die Reaktion. Ein ungutes Gefühl beschlich den Teamleiter: da war dem Bewerber was anders gesagt worden und sollte es zu einer Einstellung kommen, ist da nicht die große Erwartungsenttäuschung vorprogrammiert?
Die Wirkung und Lessons learned
So entwickelte sich aus der großen Offenheit für ein verändertes Auswahlverfahren eine ziemlich kritische Sicht des Teamleiter auf das Vorgehen. “Guter Ansatz, liebe Personaler, aber das müsst ihr wirklich nochmals üben. Aber bitte nicht wieder mit mir.” – so seine Quintessenz.
Lange Rede kurzer Sinn: Gut, wenn der Personalbereich Vorgehensweisen im Recruiting in Frage stellt und Impulse z.B. aus Seminaren aufgreift, um Veränderungen im Recruiting-/ Personalauswahlprozess vorzunehmen. Aber dann sollte nicht einfach losgelegt werden, sondern der Konzeption des veränderten Auswahlverfahrens mehr Aufmerksamkeit geschenkt und enger mit dem Fachbereich zusammengearbeitet werden. Sonst geht das Ganze nach hinten los. Hier ein paar allgemeine Hinweise dazu:
- Vorab-Entwicklung eines Konzepts, das den veränderten Auswahlprozess einschließlich der eingesetzten Instrumente und Rollen beschreibt: Welche Auswahlschritte gibt es mit welchem Inhalt, unter Verwendung welcher Instrumente, von welcher Dauer und mit welchen Beteiligten.
- Frühzeitige Information in die Führungsmannschaft, dass und was sich ändern wird und welchen Nutzen dies mit sich bringt.
- Professionelles Vorgehen bei der Entwicklung von Instrumenten:
- Klären der wesentlichen Anforderungen der zu besetzenden Stelle
- Briefing und Bereitstellung konkreter Anleitungen für die Recruiting-Verantwortlichen bei Einbindung in die Erstellung von Instrumenten für ihren Bereich
- Entwicklung von Bewertungsrastern, die auf die eingesetzten Instrumente zugeschnitten sind und die zu bewertenden Anforderungen auch klar beschreiben.
- Briefing/ Schulung der Recruiting-Verantwortlichen in der Anwendung der Recruiting-Instrumente, wie z.B. AC-Elemente und Bewertungsbögen
- In der Testphase: Dank an die “Versuchskaninchen” und Einholen von Feedback bei allen Beteiligten, um aus den möglichen Anfangsfehlern zu lernen.
Denn sonst leidet nicht nur weiter die Auswahlqualität, sondern auch die Akzeptanz des Verfahrens und leider auch die Reputation der Personaler/ Recruiter, die (gut gemeint) das neue Verfahren/ die neuen Instrumente in den Einsatz gebracht haben.
* Auch wenn wir zu Gunsten der Lesbarkeit auf die gleichzeitige Nutzung aller Genderformen verzichten, meinen wir immer alle Geschlechter.