Jedes Jahr veröffentlicht die Organisations- und Personalberatung Korn Ferry ihre Top Talent Trends. Im Jahr 2019 wird deutlich, dass Unternehmen nicht nur diverser werden, sondern damit der Austausch zwischen Unternehmen und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern immer individueller wird. Jan Müller, Managing Director bei Korn Ferry, ordnet die weltweiten Entwicklungen ein.
Mut zur Lücke im Lebenslauf – auch für Unternehmen
Der Arbeitsmarkt ist längst ein Bewerbermarkt. Das ist ein Grund, warum die berühmte ‘Lücke im Lebenslauf’ nicht mehr so sehr ins Gewicht fällt. Ein anderer: diese Lücke wird heute vielfach anders interpretiert. "Wer aus dem angestellten Berufsleben auf Wunsch oder durch Zwang für eine gewisse Zeit ausscheidet, der findet sich heute häufig nicht damit ab, ‘arbeitslos’ zu sein", sagt Jan Müller. "Vielmehr nutzen viele jüngere wie ältere Menschen diese Pausen dazu, zu reflektieren, sich Wünsche zu erfüllen, eigene Visionen zu entwickeln, gar ein Unternehmen zu gründen oder sich weiterzubilden. Die ‘Lücke’ ist damit heute kein K.O.-Kriterium mehr. Wichtig ist die Frage, wie und wozu sie genutzt worden ist. Dadurch erfährt ein Unternehmen im Zweifel mehr über die Persönlichkeit einer Kandidatin oder eines Kandidaten als durch eine formalisierte Beschreibung der letzten beruflichen Station. Die ‘Lücke’ kann heute der entscheidende Mehrwert sein, sich für jemanden zu entscheiden – nicht dagegen."
Individuelle Bezahlung wird relevanter
"Wer Diversity will, der bekommt sie auch", sagt Jan Müller. "Vielfalt in Geschlecht, Herkunft, Alter, Ausbildung und Vielem mehr kann nicht bedeuten, dass Entlohnung und Arbeitsmodelle gleichbleiben." Darum machen Unternehmen ihren Mitarbeitern zunehmend individualisierte Angebote hinsichtlich Vergütung, flexibler Arbeitszeit, bezahlter und unbezahlter Abwesenheit, Kinderbetreuung, Dienstwagenregelung etc. Jan Müller sagt: "Früher galt: Wer einen Dienstwagen angeboten bekam, der hatte ihn auch zu nehmen – selbst wenn er ihn eigentlich gar nicht wollte. Ansonsten drohte sein Ansehen in der neuen Hierarchie unmittelbar Schaden zu nehmen. Heute gilt: Jeder lebt einen individuellen Lifestyle. Und wer ein Dienstfahrrad dem Dienstwagen oder unbezahlte Abwesenheit einem hohen Bonus vorzieht, wird nicht mehr belächelt. Im Gegenteil: Wir sehen weltweit eine große Zahl an Unternehmen, die heute sehr individuelle Vergütungsvereinbarungen mit Mitarbeitern auch unterer Ebenen schließen, um diese zu motivieren und über einen längeren Zeitraum halten und entwickeln zu können."
Instant-Feedback schlägt Jahresgespräche
Seit geraumer Zeit sind die Performance-Gespräche zum Geschäftsjahrsende in kritischem Diskurs. Und tatsächlich: Firmen nehmen mittlerweile Abstand von diesem institutionalisierten, in der Regel gleich verlaufendem Ritual, der über Jahresbonus und weitere Entwicklung im Unternehmen entscheidet. "Wer leistet und wer sich weiter entwickeln kann, das wissen Führungskräfte auch schon vor dem Ende eines Geschäftsjahres", sagt Jan Müller. "Darum führen die Jahresendgespräche in die falsche Richtung. Instant-Feedback dagegen wird immer wichtiger." Gerade junge Mitarbeiter wollen rasch wissen, wo sie stehen, was sie gut, was sie schlecht machen. "Es geht aber nicht nur um die Bedürfnisse von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern", sagt Jan Müller. "Wer frühzeitig Feedback gibt, kann damit deutlich schneller Verhaltens- und damit Performance-Änderungen erzeugen. Er handelt damit zum Wohle des Einzelnen wie auch des gesamten Unternehmens. Konstantes Begleiten, Steuern und Unterstützen ist in unserer schnellen und hochflexiblen Arbeitswelt dringend nötig und steigert auch Engagement und Mitarbeiterzufriedenheit."
Nicht nur Marktforschung beim Kunden, sondern bei Kandidaten
Seit Jahrzehnten geben Unternehmen viel Geld aus, um ihre Kunden besser zu verstehen. Sie wollen wissen: Was gefällt Kunden an Produkt und Dienstleistung? Wie schlägt sich das Unternehmen im Verkaufsprozess? Wie wird bei Problemen weitergeholfen? Wie bewerten Kunden ihre Ansprechpartner? All das gab es bis vor Kurzem auf Seiten des Bewerbermarktes nicht. Jan Müller sagt: "Der Bewerber als Bittsteller – dieses Image ist mittlerweile weg. Bewerberinnen und Bewerber aber als genauso wertvoll wie den Kunden anzusehen und damit auch genauso gut verstehen zu wollen, dieser Ansatz ist neu, kommt aber mit großer Kraft. Immer öfter fällt der Begriff der ‘Amazon-Experience’ im Recruiting." Unternehmen investieren immer mehr in intelligente Feedback-Systeme in Bewerbungsprozessen – von der ersten Ansprache bis zum Abschluss oder der Negativ-Entscheidung. Um Bewerberinnen und Bewerbern künftig bessere Angebote machen zu können als in der Vergangenheit.
Talent-Analytics künftig genauso wichtig wie Business-Analytics
Dem vorhergehenden Punkt schließt sich ein ähnlicher an: Während Zielmärkte bereits intensiv mithilfe analytischer Methoden seziert wurden, hat die Frage der richtigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bisher nur eine sekundäre Rolle gespielt. Konnte ein Markt mit entsprechenden Umsatzerwartungen identifiziert werden, hat man eine Entscheidung ohne die wichtige Fragestellung getroffen: Gibt es in diesem Markt auch die notwendigen Talente, um das Vorhaben erfolgreich zu machen. "Viele Unternehmen sind in den vergangenen Jahren daran gescheitert, dass sie zwar die richtigen Ziele identifiziert haben", sagt Jan Müller. "Dann fehlten ihnen aber die notwendigen Bodentruppen. Das haben sie meist erst gemerkt, nachdem sie in den Zielmärkten bereits aktiv geworden sind." Künftige Analysemodelle schließen das Thema Arbeitskräfte und Talente mit ein, um eine präzisere Erfolgswahrscheinlichkeit errechnen zu können.
Entwicklungsprogramme werden auf Einzelne zugeschnitten
Ähnlich wie bei der Bezahlung – wer mehr Vielfalt im Unternehmen und damit diversere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hat, der hat auch andere Herausforderungen in der Weiterbildung seiner Arbeitskräfte. Denn sie alle haben unterschiedliche Stärken und Schwächen, fachliches Know-how und Charaktereigenschaften. Jan Müller sagt: "Hinzu kommt noch, dass alle unterschiedliche Ziele in ihrer beruflichen Entwicklung verfolgen. Und dass sich aktuell in rascher Abfolge neue Berufsbilder abzeichnen, für die es am externen Markt kaum Rekrutierungsmöglichkeiten gibt. All das führt dazu, dass Weiterbildung der vorhandenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter noch wichtiger wird. Und das auf individueller Ebene." Unternehmen müssen darum Abstand nehmen von Großgruppenentwicklung hin zu einem 1:1-Coaching ihrer Talente.
Balance zwischen kurz- und langfristigen Einstellungen
Nicht zu wissen, wer langfristig benötigt wird – das macht HR-Chefs heute Kopfzerbrechen. "Unternehmen müssen heute notgedrungen in die Kristallkugel schauen", sagt Jan Müller. "Aber da sie häufig gar nicht wissen, was im nächsten Jahr passiert, können sie keine klaren Profile rekrutieren." Vielmehr sind sie bei der langfristigen Rekrutierung darauf angewiesen, die richtigen Charaktereigenschaften und Lernfähigkeiten von Bewerberinnen und Bewerbern zu erkennen. Und diese einzustellen, auch wenn kurzfristig kein Job-Profil zu ihnen passt. Jan Müller: "Lernagilität, als das Wollen und Können von Lernen, ist ein Schlüssel bei der heutigen Rekrutierung. Da kann es sich lohnen auch einer Kandidatin oder einem Kandidaten ein Angebot für ein fachfremdes Themengebiet zu machen, um ihn frühzeitig ans Unternehmen zu binden. Das kann eine Investition in die Zukunft sein."
Feste Titel spielen eine immer geringere Rolle
In einer Zeit, in der ‘flache’ Hierarchien als Qualitätsmerkmal gelten, spielen feste Titel immer weniger eine relevante Rolle. Im angelsächsischen Raum ist dies schon zu beobachten. Da wird aus dem Nachwuchs-Juristen ein ‘Legal Ninja’ oder aus dem Vertriebsmitarbeiter ein ‘Customer Relations Advocate’. Jan Müller sagt: "Das ist auch ein Hinweis, dass etablierte und feste Strukturen immer stärker und in kürzeren Zyklen in Frage gestellt werden, gleichzeitig ein stückweit Spielerisches in die Unternehmenswelt Einzug hält. Titel müssen heute schnell an neue Rahmenbedingungen anpassbar sein. Übrigens auch auf der Führungsebene." Da wird so mancher Arbeitsdirektor heute zum ‘Chief People Officer’. Und auch ‘Chief Happiness Officers’ und ‘Chief Transformation Officer’ sind schon jetzt in deutschen Unternehmen zu finden. "Deutsche Unternehmen nehmen immer mehr die amerikanische Attitüde an, dass sich nicht nur Rollen, sondern auch Titel beständig ändern und sowohl an Aufgabe als auch an Zeit angepasst sein können. Die alte Mentalität, ‘einmal Direktor, immer Direktor’ wird in Deutschland mittelfristig verschwinden."