Manche Unternehmensvertreter machen am Anschreiben die Qualität einer Bewerbung oder gar eines Bewerbers fest. Viele klagen aber auch über wenig aussagekräftige und floskelhafte Formulierungen oder die redundante Wiedergabe von Lebensläufen und werfen allenfalls am Schluss einer Bewerbungsanalyse noch einen kurzem Blick auf das Anschreiben. Auf der anderen Seite hinterfragen Bewerber das Zeitinvest für und die Sinnhaftigkeit von Anschreiben immer offensiver. Und das ruft auch Anbieter von Alternativen auf den Plan:
So bieten Ghostwriter das Formulieren von Anschreiben bis hin zu ganzen Bewerbungen an und Softwareanbieter entwickeln One-Click-Bewerbungstools, die das einfache Bewerben mittels Social-Media Profilen (und ohne Anschreiben) erlauben. Mir scheint, es ist an der Zeit, das Anschreiben als Pflichtbestandteil von Bewerbungen zu hinterfragen.
Was nicht alles aus Anschreiben gelesen wird
Kürzlich haben wir im Rahmen eines Projektes zur Recruiting-Optimierung Interviews mit Unternehmensvertretern geführt und das Vorgehen bei der Personalauswahl erkundet. Naturgemäß wurde da auch thematisiert, wie man sich vor dem persönlichen Kennenlernen ein Bild vom Bewerber macht.
Und es zeigte sich sehr deutlich: das Anschreiben genießt dort einen sehr hohen Stellenwert. Viele sehen sich Bewerbungsunterlagen “der Reihe nach” an: D. h. sie schauen als erstes auf das Anschreiben und entscheiden dann nicht selten, ob sie sich überhaupt noch mit den restlichen Unterlagen beschäftigen.
Bei der Analyse der Anschreiben wird je nach Betrachter auf sehr unterschiedliche Dinge geachtet und mehr oder weniger viele Aspekte zur Bewertung herangezogen; hier ein paar Beispiele:
- Optik, Formatierung und Rechtschreibung gelten als Indizien für Sorgfalt und Ordentlichkeit,
- die Ausdrucksweise wird als Beleg für Sprachkompetenz herangezogen,
- der Einleitungssatz sagt eigentlich schon alles über Kreativität und Begeisterungsfähigkeit aus,
- eine Bezugnahme zum Unternehmen gilt als Interesse an der Firma und Bemühen um den Job,
- die Länge des Anschreibens ist Maßstab für Extrovertiertheit oder Introvertiertheit,
- ein aktiver oder passiver Schreibstil zeugt von eigener Aktivität oder Passivität
- Konjunktive sind Zeichen für Unsicherheit und
- die Unterschrift kann je nach Betrachter auch einiges aussagen …
Aber sind die Schlussfolgerungen wirklich haltbar? Objektivierbare Operationalisierungen fehlen in der Regel. Statt dessen werden die Bewertungen anhand persönlicher Vorlieben, Erfahrungen und subjektiver Definitionen vorgenommen. Die wenigsten Ableitungen lassen sich wissenschaftlich belegen. Daher sind Beurteilungsfehler sehr wahrscheinlich.
Einzel-/Ausnahmefälle? Nein – wir haben vergleichbare Aussagen auch schon in anderen Projekten gehört und auch einschlägige Studien belegen: das Anschreiben wird bei vielen Arbeitgebern hoch aufgehangen.
Umfragen zur Bedeutung von Anschreiben
Nicht nur unser gerade geschildertes Aha-Erlebnis im Rahmen eines Projektes, auch Studienergebnisse belegen den hohen Stellenwert von Anschreiben in der Personalauswahl.
Die Arbeitgeberseite
Laut der “Stepstone Trendstudie 2015” ist das Anschreiben nach Lebenslauf und Arbeitszeugnissen für 63% der Recruiter ein besonders wichtiger Bestandteil einer Bewerbung.
In den “Monster Recruiting Trends 2016 – Themenspecial Bewerbung der Zukunft” bescheinigen sogar 8 von 10 Unternehmensvertreter dem Anschreiben eine hohe Bedeutung; allerdings sehen sie auch eine abnehmende Tendenz für die Zukunft.
Nach der “Indeed-Bewerbungsstudie 2016” erwarten 87% der Personaler ein Anschreiben. Für sie ist ein Anschreiben ein Weg zur Beurteilung der Ausdrucksfähigkeit der Kandidaten, der Gewinnung zusätzlicher Informationen über die Unterlagen hinaus, ein Beleg für das Bemühen des Bewerbers und gehört einfach zu einer Bewerbung dazu.
Die Bewerberseite
Laut der Indeed Bewerbungsstudie 2016 sehen 66% der Bewerber im Anschreiben einen Nutzen, die übrigen bezweifeln ihn. Neben der Sinnfrage ist für die Bewerber das Anschreiben auch eine zeitlich Hürde. Bewerber geben in der Studie an, durchschnittlich 74 Minuten an einer Bewerbung zu sitzen; ein Großteil der Zeit dürfte mit dem Formulieren des Anschreibens draufgehen, da die übrigen Unterlagen in der Regel einmal zusammengestellt und dann nicht mehr geändert werden (müssen).
Nach der Stepstone Studie ist das Anschreiben für 62% der Bewerber sogar die größte Hürde im Bewerbungsprozess. In der Indeed-Studie geben 50% der Bewerber an, dass die Formulierung eines Anschreibens das “Nervenaufreibenste” an einer Bewerbung ist. Daher wundert es auch nicht, dass 36,5% der Bewerber sich gerne ohne Anschreiben bewerben würden (Monster-Studie).
Risiko: Anschreiben könnte aus fremder Feder sein
Nicht nur, dass die subjektive Interpretationen von Anschreiben problematisch sind, man kann auch nicht zwingend davon ausgehen, dass ein Anschreiben tatsächlich vom Bewerber selbst formuliert ist.
Im besten Fall werden Anschreiben von einer anderen Person gegen- und Korrektur gelesen und ggf. Vorschläge für Umformulierungen übernommen. Im Extremfall ist aber das Anschreiben oder gar die gesamte Bewerbung das Produkt eines privaten oder professionellen Ghostwriters.
13,7% der Befragten haben sich in den Monster Recruiting Trends dazu bekannt, ein Anschreiben oder einen Lebenslauf schon mal durch jemand Dritten haben schreiben lassen.
Ghostwriter bieten Anschreiben als Service
Inzwischen haben sich einige Dienstleister am Markt auf den Service des Bewerbungsschreibens spezialisiert – die Wirtschaftswoche berichtete jüngst darüber. Und die Geschäfte laufen scheinbar nicht schlecht an: ein Anbieter berichtet von ca. 300 Aufträgen pro Monat und einem sechsstelligen Umsatz. Als Bewerber kann man sich so das Formulieren eines Anschreibens oder einer ganzen Bewerbung für überschaubares Geld von professionellen Textern und Designern, die auch noch für die richtige Optik sorgen, abnehmen lassen.
Kundenklientel und ihre Motive
Nach Angaben eines Anbieters kommen die Kunden insbesondere aus dem kaufmännischen/ betriebswirtschaftlichen Bereich, aber auch aus dem Medizin- und Ingenieurbereich; der Anteil der Studenten/Absolventen liegt (aktuell) unter 5%. Hauptmotiv ist für viele die Zeitersparnis, Unkenntnis über die aktuellen Gepflogenheiten beim Erstellen von Bewerbungen sowie fehlende Routine im Schreiben.
Gute Gründe also, Anschreiben weniger hoch zu hängen?
Ich finde ja. Das Risiko einer Fehlauswahl aufgrund eines subjektiv interpretierten und dann ggf. nicht einmal aus der Feder des Bewerbers stammenden Anschreibens ist nicht unerheblich. Bei der Vorauswahl von Kandidaten sollte man stärker das Anforderungsprofil und die geforderten Kompetenzen in den Vordergrund stellen und anhand der Unterlagen prüfen, inwieweit diese abgedeckt sind. Und dazu reichen grundsätzlich ein detaillierter Lebenslauf, Arbeitszeugnisse/Referenzen und je nach Job ggf. Arbeitsproben.
Wenn man etwas über die Motivation der Kandidaten, ihr Interesse am Unternehmen und ihren Kommunikationsfähigkeit herausfinden möchte, ist aus meiner Sicht ein Telefoninterview oder Videointerview der bessere Weg. Hier hat man die Möglichkeit, direkt nachzufassen und (floskelhafte) Aussagen konkretisieren zu lassen sowie Sprech- und Ausdrucksweisen persönlich zu erleben. Und auch die meisten der o.g. Aspekte, die man vermeintlich aus Anschreiben herauslesen kann, lassen sich durch professionelle Interviewtechniken oder Testverfahren deutlich zuverlässiger evaluieren.
Mit zunehmender Bedeutung der One-Click Bewerbungen verliert das Anschreiben ohnehin an Bedeutung. Außerdem sind Arbeitgeber in Zeiten von “Candidate Experience” besonders aufgerufen, Bewerbungshürden abzubauen und das Bewerben möglichst einfach zu gestalten. Warum also nicht wirklich mal darüber nachdenken, auf Anschreiben zu verzichten und ein einfaches und schnelles Bewerben mittels Lebenslauf und Zeugnissen/Referenzen zu ermöglichen – egal ob über One-click-Bewerbungstechnologien oder klassisch via E-Mail oder smartem Bewerbungsformular.
Wer aber als Arbeitgeber nach wie vor ein persönliches Anschreiben als Zeichen des Bemühens des Kandidaten um den Job haben möchte, der sollte auch sein “Bemühen” signalisieren und durch eine aussagekräftige Stellenausschreibungen in Vorleistung gehen sowie sich mit einer zeitnahen personalisierten Bewerberkommunikation im und nach dem Auswahlverfahren revanchieren.
* Auch wenn wir zu Gunsten der Lesbarkeit auf die gleichzeitige Nutzung aller Genderformen verzichten, meinen wir immer alle Geschlechter.