Haben Sie schon mal vom Projekt Repicturing Homeless gehört. Ich bin vor einiger Zeit darauf aufmerksam geworden und war sehr beeindruckt – vom Projekt und von dem, was es uns so plastisch vor Augen führt: wie schnell wir einem Trugschluss unterliegen. Im wahren Leben wie bei der Bewerbungsanalyse.
Das Projekt Repicturing Homeless
In diesem Projekt werden Wohnungslose in einen anderen Kontext versetzt und fotografiert. Anderes Outfit, andere Location und schon sieht man eine ganz andere Person und nicht jemanden, der seit mehreren Jahren auf der Straße lebt. Man assoziiert mit dieser Person ganz andere Eigenschaften, Fähigkeiten, Berufe usw. Schauen Sie sich hier die Vorher-Nacher-Bilder an und sehen Sie selbst. Mit den Repicturing Homeless-Bildern möchten die Initiatoren mit Stereotypen brechen und uns Betrachter dafür sensibilisieren, wie schnell wir falsche Rückschlüsse auf eine Person ziehen. Aber die Initiatoren möchten zugleich auch etwas für die Wohnungslosen tun. Mit dem Verkauf der Bilder der so entstandenen Stock-Foto-Serie unterstützen sie die Obdachlosen.
Bewerbungsfotos – nur ein Trugschlusspotenzial bei der Bewerbungsanalyse
Aus Umfragen und eigenen Erfahrungen bei der Unterstützung von Unternehmen bei der Bewerberauswahl wissen wir: das Bewerbungsfoto ist bei manch einem Entscheider ein ganz wichtiges Bewertungskriterium, wenn es darum geht, die Passung eines Bewerbers zur Stelle und zum Unternehmen einzuschätzen. “Die sieht doch ganz sympatisch aus – die macht bestimmt guten Umsatz.” “Der mit den verschränkten Armen, der strahlt doch richtig Durchsetzungskraft aus. Ganz anders als der, der seinen Arm auf dem Tisch liegen hat; der muss sich wahrscheinlich bei jedem kleinen Windstoß festhalten”. Kennen Sie auch solche Sätze? Hier kommt das subjektive Schubladendenken voll auf seine Kosten.
Bei der Suche nach weiteren Stereotypen zum Aussehen sind wir alleine zum Thema Frisur schon über einige gestolpert:
- Bei gepflegten Haaren wird auf höhere Leistung geschlossen.
- Frauen mit roten Haaren wird weniger Professionalität unterstellt. Kurzhaarige gelten eher als intelligent und selbstbewusst, dunkle Locken lassen eher auf Unsicherheit schließen.
- Offene Haare lassen Frauen weniger kompetent wirken als wenn sie die Haare zusammengebunden oder hochgesteckt tragen.
- Eine eher chaotisch wirkende Frisur lässt auch auf eine chaotische Type schließen.
- Lange Haare bei Männern lassen einen unkonventionellen Typen vermuten.
Vergleichbares gibt es zu Kleidung, Armhaltung, Gesichtsausdruck oder Physiognomie, der Wirkung von Hintergrund etc. So werden z.B. gut gekleidete, große Männer mit markantem Gesicht als durchsetzungsstark wahrgenommen. Demgegenüber schreibt man kleinen, etwas fülligen Frauen eher Nachlässigkeit und fehlendes Engagement zu.
Stereotypen lauern überall – gerade bei der Bewerbungsanalyse
Was mit Bewerbungsfotos geschieht, geschieht auch mit anderen Informationen, die wir aus Bewerbungen herauslesen. Hier ein paar Beispiele:
- Aus einem roten Faden im Lebenslauf und fehlenden Lücken wird auf eine ordentliche und stringent handelnde Persönlichkeit geschlossen. Vielleicht ist derjenige aber auch lediglich entscheidungsunfreudig oder wenig veränderungsbereit?
- Kandidaten mit einigen Jahren im Beruf wird umfangreiche Berufserfahrung unterstellt. Was aber, wenn diese nur ihre Zeit abgesessen und immer den gleichen Dienst nach Vorschrift gemacht haben?
- Wer einen Auslandsaufenthalt vorzuweisen hat, gilt schnell als interkulturell erfahren und weltoffen. Vielleicht handelte es sich aber auch um ein Pflichtpraktikum, derjenige hat sich nur unter Deutschen aufgehalten und weiter Curry-Wurst gegessen?
- Wer Vereinsmitglied ist, dem wird Teamfähigkeit zugesprochen. Aber gilt das auch für inaktive Mitglieder, die nur Beiträge zahlen? Und ist jemand, der eine Teamsportart betreibt, automatisch teamfähig oder kann das nicht auch ein Egomane sein, der alle nur in den Schatten stellen will?
- Aus einem sozialem Engagement wird auf Empathie und andere soziale Kompetenzen geschlossen. Manch einer wollte damit aber vielleicht auch nur Zeit überbrücken oder seinen Lebenslauf pimpen, war aber mehr als genervt von den damit verbundenen Verpflichtungen.
- Ein junges Lebensalter wird schnell mit hoher IT-Affinität und Digitalkompetenz verbunden, während Silver Agern genau das Gegenteil zugeschrieben wird. Und da ist noch die Sache mit dem Namen. …
Wer in Zeiten von Social Media auch noch einen Background-Check von Bewerbern macht, hat einen weiteren Fundus an möglichen Vorurteilen. Nach einer Umfrage glauben 40% der Personaler von den auffindbaren Fotos auf die Extraversion der Kandidaten schließen zu können, 44% leiten Aussagen zur persönlichen Reife ab, 31% machen sich darüber ein Bild vom Selbstwert einer Person.
Und auch das soll es geben: Bei Papierbewerbungen sollen das Gewicht der Mappe, die Qualität der Briefmarke oder die Farbe der Bewerbungsmappe durchaus schon als Kriterien zur Personalauswahl herangezogen worden sein.
Vordergründig hilfreich – tatsächlich aber riskant
In Fachkreisen spricht man in diesem Zusammenhang von unconscious bias. Sie bergen das Risiko von Fehlentscheidungen. Denn für viele der Stereotypen gibt es wissenschaftlich gesehen keine Beweise. Hier ein schöner Artikel zum Beleg zur Aussagekraft von Lücken im Lebenslauf und ein anderer zur Aussagekraft von sportlichen Aktivitäten.
Die Folge: möglicherweise gut passende Bewerber werden vorzeitig abgelehnt. Oder man fällt auf besonders gewiefte Kandidaten herein. Denn auch die Bewerberseite nutzt das Wissen um unconscious bias durchaus. Bewerber wenden verschiedene Strategien bei der Erstellung ihrer Bewerbungsunterlagen an, um sich einen Vorteil zu verschaffen. So ergab eine Studie z.B. dass 42% gezielt Hobbies angeben, von denen sie glauben, dass sie die gesuchten Fähigkeiten für die Stelle unterstreichen.
Gegenlenken ist möglich
Trugschlüsse gibt es viele, das zeigt das Projekt Repicturing Homeless und die beschriebenen Beispiele. Aber es gibt auch ein paar Möglichkeiten, diesen nicht zum Opfer zu fallen und gerade in der Bewerbungsanalyse objektiver zu agieren:
- Vor jeder Bewerberauswahl sollte man im Rahmen der internen Auftragsklärung klare und messbare Anforderungen, abgeleitet aus den aktuellen und künftigen Aufgaben der Stelle, formulieren. Idealer Weise erstellt man eine ABC-Tabelle mit den relevanten Must-have-, Nice-to-have- und No-go-Kriterien, um Bewerbungsunterlagen zu analysieren und die Bewerber in A-, B- und C-Kandidaten einzuteilen.
Studien zeigen, dass ein hoher Prozentsatz von Unternehmen keine verbindlichen Anforderungen zur Besetzung einer Stelle festlegen, geschweige denn festhalten, wie stark die Anforderungen erfüllt sein sollen oder wie sie operationalisiert sind. “Sie gehen im Blindflug durch die Unterlagen und hoffen, auf wundersame Weise die Eignung eines Kandidaten aufspüren zu können.” (vgl. Kanning , U.: Anforderungsanalyse: Denn sie wissen nicht, wen sie suchen, in: Haufe Online 08.02.2017) - Es ist sinnvoll, Auswahlentscheidungen kurz zu dokumentieren, damit andere Personen diese nachvollziehen können (4-Augen-Prinzip). Im Sinne des kollegialen Coachings sollte man sich dann gegenseitig darauf aufmerksam machen, wenn man feststellt, dass jemand zu solchen Trugschlüssen neigt.
- Man selber tut auch gut daran, sich für eigene blinde Flecken zu sensibilisieren und sich bewusst Beispiele vor Augen zu rufen, bei denen man Opfer eines solchen Trugschlusses wurde.
- Schulungen/ Trainings/ E-Learnings zur Personalauswahl sollten regelmäßig durchgeführt werden und natürlich auch die strukturierte Bewerbungsanalyse thematisieren.
- Ggf. kann eine anonyme Bewerbung sinnvoll sein. Ohne Vorname, Geburtsdatum und Foto fallen schon mal einige Stereotypen bei der Bewertung von Bewerbungsunterlagen weg. Das schützt aber nicht davor, im nächsten Auswahlschritt wieder den selben Trugschlüssen zu erliegen. Es sei denn man führt auch die Vorstellungsgespräche als Blind Date.
Hier noch zwei interessante Beiträge zum Thema Interviewer-Bias – denn das Thema hört nicht bei der Bewerbungsanalyse auf:
Unconscious Bias: “Ich Erkenne Potenzial Nach Zwei Minuten” von Marcus K. Reif
Interviewer-Bias: Unbewusste Vorurteile im Recruiting von Martina Kettner
* Auch wenn wir zu Gunsten der Lesbarkeit auf die gleichzeitige Nutzung aller Genderformen verzichten, meinen wir immer alle Geschlechter.